Alles wirkt ganz normal an diesem Samstag, den 20. Juli. Die Wettkämpfe beim 18. Schönebecker SoleCup sind am Laufen, das traditionelle Wurfmeeting ist in vollem Gange. Gerade messen sich die Kugelstoßer untereinander. Doch dann, mit einem Mal, wird es stiller im Sportpark, Flüstern beginnt unter den anwesenden Zuschauern: „Ist er das?“, „Da kommt er.“
Gemeint ist SC Magdeburg Leichtathlet Martin Wierig, der heute seinen letzten Wurf in diesem, seinem so genannten Zuhause, machen möchte, wo er so viele persönliche Bestleistungen erringen konnte. Gegen 14.30 Uhr, ausgerüstet mit einem Lächeln und seiner Sporttasche über den Schultern, betritt er, ohne sich etwas anmerken zu lassen, die Wettkampfstätte. Freundlich grüßt er in die Runden, winkt zu bekannten Gesichtern, die ihn über Jahre begleitet haben und betritt anschließend den Kraftraum, wo der Athlet seinen Diskus abwiegen und abmessen lassen muss. Hier ist es das erste Mal auffällig: Martin wirkt angespannt. Der Kampfrichter bemerkt beim Vermessen der Disken auch noch die Bedeutung dieser Sportgeräte und dass hier bestimmt die ein oder andere Sportgeschichte dahinter verborgen liegt. Nahezu flüsternd und wehmütig entgegnet Martin Wierig, dass genau dieser hier der Weltmeister Diskus ist, der ihn 2013 zu Platz 4 in Moskau begleitete. „Der Tag war komisch, muss ich ehrlich sagen. Ich war gar nicht aufgeregt, sondern eher ängstlich. Ängstlich vor dem Moment wie es dann so kommt, wenn es so weit ist.“, sagt Martin Wierig. Martin atmet schwer, er verlässt das Vermessungsgebäude und prompt kommen die ersten Sportskameraden, Fans und SoleCup Veranstalter auf ihn zu, um ihn zu begrüßen, um ein Selfie einzufangen. Nach guten 20 Minuten findet Martin seinen Weg auf die Zuschauertribüne. Er schaut um sich, fängt die Momente ein und nimmt alles noch einmal wahr, lässt es auf sich wirken.
Es ist 15 Uhr. Der zweimalige Deutsche Diskusmeister ist nicht mehr auf der Tribüne aufzufinden. Auf dem Sportplatz direkt dahinter macht er sich zusammen mit anderen Diskus Kollegen warm, wird dabei immer wieder unterbrochen von langjährigen Weggefährten, die ihm Glückwünsche aussprechen und schöne Momente Revue passieren lassen und dadurch Erinnerungen in Martin wecken.
16:15 Uhr. Die Beine wippen nervös auf und ab, die Atmung wird schneller, das Einwerfen ist längst vorüber, der Wettkampf steht an. Der letzte Wettkampf des legendären Martin Wierig. Die Diskus Athleten werden vorgestellt. Großer Jubel und „Danke Martin“ Rufe schallen durch den Sportpark als der Olympionike von 2021 in London aufgerufen wird. Martin applaudiert seinen Fans, reißt die Arme in die Höhe und dankt ihnen für die jahrelange treue Unterstützung. Dann die große Überraschung: Alle seine Diskus Kollegen, männlich sowie weiblich, bilden ein dichtes Spalier und geben Martin die Ehre. Der ehemalige Deutsche Diskus Meister kann es nicht wirklich begreifen, ist den Tränen nahe. Er nimmt seinen Mut zusammen und läuft durch das Spalier. Nach diesem emotionalen Moment muss er sich wieder sammeln, um den ersten von insgesamt sechs letzten Würfen anzutreten. Nach insgesamt drei ungültigen Versuchen, die Beweis für die Unsicherheit und die Geschichte hinter diesem Tag sind, der erste gültige und auch sein bester an diesem Tag mit 54,68m. Die Zuschauer applaudieren, machen Stimmung für den Olympioniken.
Als Gewinner der Herzen verlässt Martin Wierig die Wettkampfbühne, richtet letzte Worte nach der Siegerehrung seiner triumphierenden Kollegen an seine Trainer, wichtige und tragische prägende Momente in seinem Leben, seine Fans und seine Familie, wovon ihm seine beiden Söhne helfen, sinngemäß die Stiefel an den Nagel zu hängen.
„Die Begrüßung und die Verabschiedung beim ersten und beim letzten Wurf war dann schon sehr emotional und so schön wie ich es mir auch vorgestellt hätte. Ich habe mich gewundert, dass mir wirklich niemand ein Bier gebracht hatte. An den Würfen hat man gesehen, dass der körperliche Verfall sehr schnell voranschreitet, aber darum ging es heute nicht. Ich bin jetzt froh, den ersten Schritt gemacht zu haben und nun können wir heute Abend noch ein Bisschen feiern.“, wertet Martin Wierig seinen letzten Wettkampf aus. Ein knappes Vierteljahrhundert Diskus Leidenschaft findet beim Schönebecker SoleCup damit sein Ende und das lang erwartete Bier hat Martin Wierig mit Sicherheit abends beim Feiern genießen dürfen.
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